„Magdalena“, hörte sie ihren Vater unten am Treppenabsatz rufen, „kommst du bitte nach unten, deine Mutter hat das Abendessen gerichtet!“ Mit einem tiefen Seufzer ließ das junge Mädchen die Danaide zurück in ihre Tasche gleiten, der sie sie am frühen Nachmittag verstohlen entnommen hatte.
„Bis später“, flüsterte sie ihr zu und erschauderte bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn ihr Vater die Skulptur bei ihr entdeckte.
„Wie war deine Musikstunde, hast du Fortschritte gemacht?“, fragte ihr Vater, während er sich einen Nachschlag grüner Bohnen nahm. Magdalena nickte stumm. Es war ihr unmöglich, auch nur ein Wort hervorzubringen. Mechanisch kaute sie auf einem Stück Rindfleisch herum, das ihr heute besonders zäh vorkam.
„Du hast so gerötete Wangen, Kind“, sagte ihre Mutter und schaute sie besorgt an, „du bist doch nicht etwa krank?“
Magdalena schüttelte den Kopf. „A-aber nein“, stammelte sie und fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss, „ich … die Hausaufgaben waren ein wenig anstrengend. Sonst ist nichts. Gar nichts.“
Ihr Vater nickte anerkennend. „Du weißt ja, wie stolz ich darauf bin, eine so rechtschaffene Tochter zu haben, Magdalena“, sagte er und tätschelte ihr den Arm. „Du wirst es einmal weit bringen, da bin ich mir ganz sicher. Erst neulich habe ich zu Pastor Eckstein gesagt, wie gut dir das Theologiestudium zu Gesicht stehen wird, und er hat mir aus vollem Herzen zugestimmt. Weißt du, Magdalena, es gibt heutzutage nicht mehr viele Menschen, die ihr Leben in wahrer Gottesfurcht verbringen. Vielmehr herrschen da draußen das Laster und die Sünde.“
„War dein Klavierlehrer zufrieden mit dir?“, griff ihre Mutter das Thema Musikunterricht wieder auf.
„Ja. Ja, ganz bestimmt“, beeilte sich Magdalena zu sagen, „wir haben heute mit einem neuen Stück angefangen. Von Johann Sebastian Bach. Es ist … sehr schön.“
„Wahrlich, ich muss schon sagen“, ließ sich ihr Vater, der soeben dabei war, eine Flasche Rotwein zu entkorken, vernehmen, „dein Musiklehrer … wie heißt er noch gleich?“
„Raffael Winter“, half ihm seine Frau kopfschüttelnd auf die Sprünge. „Dass du dir aber auch nie seinen Namen merken kannst!“
„Raffael Winter. Ja, tatsächlich“, erwiderte ihr Mann, „das ist eigentlich ein Name, den man sich gut merken kann. Raffael. Wie der Erzengel. Da haben wir eine gute Wahl getroffen.“ Er nippte genüsslich an seinem Wein, dann fügte er hinzu: „Pastor Eckstein hat ihn mir wärmstens ans Herz gelegt. Winter sei ein gebildeter und gottesfürchtiger Mann, hat er gesagt. Hm. Johann Sebastian Bach. Ja, das ist Musik zur Ehre unseres Herrn. Sehr schön, Magdalena, sehr schön.“ Erneut tätschelte er den Arm seiner Tochter.
„Ich müsste dann mal mit den Hausaufgaben weitermachen“, sagte Magdalena, nachdem sie sich gezwungen hatte, ihren Teller leer zu essen. „Darf ich bitte aufstehen?“ Das Gerede ihrer Eltern über den Musikunterricht konnte sie an diesem Abend kaum ertragen. Sie liebte es, Klavier zu spielen. Aber heute … Sie war noch nicht lange als Schülerin bei Raffael Winter, seit nunmehr sechs Wochen. Zuvor hatte sie Unterricht bei einer älteren Dame gehabt, die dann aber schwer erkrankt war. Der junge Herr Winter hatte ihr gleich gefallen. Er sah gut aus und hatte eine offene und frische Art, ein wenig wie die Jungen in ihrer Schule, wenn die ihr auch manchmal ein wenig zu forsch waren. Aber bei ihm machte ihr der Unterricht noch deutlich mehr Spaß als zuvor bei der älteren Dame, die ziemlich streng und verknöchert gewesen war. Selbst ihre Fehler nahm Raffael Winter nur mit einem Lachen zur Kenntnis und ermunterte sie mit dem einen oder anderen Hinweis, es einfach noch einmal zu probieren. Ja, mit ihm machte das Klavierspiel Spaß. Umso schlimmer war, dachte sie bei sich, was sie sich heute geleistet hatte. Danaide. Sie hatte sie bei ihm auf dem Kaminsims entdeckt, als er für ein kurzes Telefonat aus dem Zimmer gegangen war und sie sich interessiert in dem großen, ansprechend eingerichteten Raum umgesehen hatte. Wie ein Stromstoß war es ihr beim Anblick der weißen Marmorskulptur durch den Körper gefahren. Wie elektrisiert war sie von ihrer Klavierbank aufgestanden und hatte sich ihr genähert. Ganz vorsichtig hatte sie ihre Hand ausgestreckt, um sie zu berühren. Sie hatte sie nur einmal kurz anfassen wollen, ganz bestimmt. Aber dann … noch ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte sie sie an sich genommen und in ihrer Tasche verschwinden lassen. Sie schämte sich. Aber bereits am morgigen Mittag, gleich nach der Schule, würde sie ihre nächste Klavierstunde haben. Und dann würde sie die Danaide einfach wieder an ihren Platz zurückstellen. Bestimmt hatte er gar nicht bemerkt, dass sie sie genommen hatte. Und wenn doch? Magdalena schluckte schwer. Nun, dann würde sie ihm eine Erklärung geben müssen. Und sie würde sich entschuldigen. Aber nein, beruhigte sie sich im nächsten Moment selbst. Das Musikzimmer war so mit allerlei Krempel voll gestellt, dass er es unmöglich bemerkt haben konnte. Ganz sicher würde sie einen Augenblick alleine im Zimmer sein. Nein, er würde nie erfahren, dass sie eine Diebin war.