Projekt Beschreibung

Die Kraft der Entbehrung

Wege in eine neue Zeit, Band 2

Historischer Roman

Worum es geht

1923. Das Ende des Ersten Weltkriegs zwang die Geschwister der Familie Ulferts, auf getrennten Wegen ihr Glück zu suchen. Nachdem sie sich, jeder auf seine Weise, in ihrem neuen Leben eingefunden haben, stellt sie die Wirtschaftskrise erneut vor existenzielle Herausforderungen.

So kämpfen Janno und Edith in Berlin um das Überleben ihres Unternehmens, während sich Hiska und Karl mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen konfrontiert sehen. Einzig Ennas Leben in Ostfriesland bleibt von den Folgen des wirtschaftlichen Abstiegs weitgehend unberührt; den Schikanen ihrer Schwiegerfamilie ausgesetzt, fühlt sie sich dennoch zutiefst unglücklich und beginnt, für ihre Unabhängigkeit und das Glück ihrer Kinder zu kämpfen.

Das mitreißende Porträt eines Schicksalsjahres, in dem nationalistische Seilschaften ihre Kräfte bündeln und sich das Leid einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft zunutze machen.

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Leseprobe

Ostfriesland, Januar 1923

Enna liebte diese kleinen Ausflüge mit ihrem Sohn, gaben sie ihr doch das Gefühl, endlich mal wieder durchatmen zu können. Ja, hier an der Nordsee, deren Wellen, aufgepeitscht von einem steifen und eisigen Nordwestwind, mit lautem Getöse ans Ufer krachten, genoss sie für eine kurze Zeit die Freiheit, die ihr ansonsten verwehrt blieb.

 

Seit dem Tod ihres Mannes im Frühjahr 1920 war die Villa der wohlhabenden Fabrikantenfamilie Adena für sie mehr und mehr zu einem Gefängnis geworden, aus dem es kein Entrinnen gab. Eingeengt von der Rolle, die ihr als Mutter des Adena-Erben von ihren Schwiegereltern zugedacht worden war, verfiel sie immer häufiger in einen Zustand des Trübsinns und der Hoffnungslosigkeit. Vor allem, wenn sie an ihre dreijährige Tochter Clivia dachte, die man ihr entrissen hatte, verkrampfte sich ihr Herz so sehr, dass sie glaubte, nie wieder froh werden zu können. Immer wieder fragte sie sich dann, ob sie richtig gehandelt hatte, ob sie etwas hätte besser machen können. Das Ergebnis dieser Grübelei aber war stets dasselbe: Man hatte ihr keine Wahl gelassen. Wie sie es auch drehte und wendete, sie hatte nur verlieren können. Clivia oder Gerke. Sie hasste ihre Schwiegereltern abgrundtief dafür, dass sie sie vor diese Entscheidung gestellt hatten. Clivia oder Gerke. Konnte es für eine Mutter denn überhaupt Schlimmeres geben, als dass man sie zwang, sich gegen eines ihrer Kinder zu entscheiden?
Den Blick auf die tosenden Wellen und die schweren grauen Wolken gerichtet, die, vom Sturm gepeitscht, in schnellem Tempo über den Himmel dahinstoben, stieß Enna einen tiefen Seufzer aus. Es tat so weh, ihre kleine Tochter verraten zu haben, so unendlich weh! Zwar wusste sie Clivia bei ihrem Bruder Ubbo und dessen Frau Nienke in den besten Händen, und doch raubte ihr der Gedanke an das Kind regelmäßig den Schlaf. Niemals würde sie den Moment vergessen, in dem sie voneinander hatten Abschied nehmen müssen. In ihren Träumen verfolgten sie noch heute die kleinen Ärmchen, die Clivia nach ihr ausstreckte. Dabei hatte das kleine Mädchen so sehr geweint, als hätte es geahnt, dass es von diesem Tag an auf die bedingungslose Liebe der Mutter, die ihr bis dahin zuteilgeworden war, würde verzichten müssen.
Und das nur, weil ihre Haut ein wenig dunkler war als in Ostfriesland üblich.
Ennas Hoffnung, dass sich die Merkmale, die Clivia als die Urenkelin einer afrikanischen Frau auswiesen, nicht allzu sehr ausprägen würden, hatte sich nicht erfüllt. Mit jedem Monat, den das Mädchen älter wurde, erinnerte es Enna mehr und mehr an ihren leiblichen Vater Jean-Pierre, einen belgischen Soldaten mit goldbrauner Haut und dunklem Haar, dem sie während des Kriegs verfallen war. Der jedoch war gleich nach der deutschen Kapitulation in seine Heimat zurückgekehrt – nicht wissend, dass Enna sein Kind unter dem Herzen trug.
Ja, Clivia war das Ergebnis einer verbotenen Liebe, das Enna der Familie Adena durch die Hochzeit mit dem Adena-Erben hatte unterschieben wollen. Sie hätte wissen müssen, dass der liebe Gott für derlei Ränkespiele keinerlei Verständnis hatte. Dessen Groll und mit ihm die Folgen für ihr sträfliches Handeln hatte sie sich also ausschließlich selbst zuzuschreiben.
»Woher hast du dieses Kind?«, hatte die Schwiegermutter sie eines Tages – es war kurz nach Gerkes Geburt gewesen – so unvermittelt angegiftet, dass Enna vor lauter Entsetzen sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war. So lange schon hatte sie befürchtet, dass dieser Moment kommen würde; als er aber plötzlich da war, waren alle Erklärungen und Rechtfertigungen, die sie sich in ihrem Kopf zurechtgelegt hatte, wie ausgelöscht. »Überall in der Gegend zerreißt man sich bereits das Maul über das Kuckuckskind, das du uns in so infamer Weise untergeschoben hast. Überall!« Mit dem für sie typischen verschlagenen Gesichtsausdruck und drei erhobenen Fingern hatte Undine Adena hinzugefügt: »Ich gebe dir noch drei Tage, Enna, dann ist das Kind weg.«
»Weg?«, hatte Enna mit Panik in der Stimme gekrächzt.
»Weg«, hatte die alte Adena bekräftigt. »Oder glaubst du vielleicht, wir lassen uns dieses … dieses Geschöpfes wegen zum Gespött der ganzen Nachbarschaft machen?! Wir haben schließlich einen Ruf zu verlieren. Einen sehr guten Ruf, den wir von dir ganz sicher nicht weiterhin in den Dreck ziehen lassen! Schlimm genug, dass wir auf dich reingefallen sind. Wenn ich mir vorstelle, dass du meinen armen Sohn derart hintergangen hast … Das ist … das ist so … incroyable! Wirklich unglaublich.« Die Schwiegermutter atmete schwer und begann, sich mit einem Fächer Luft zuzufächeln. »Drei Tage, Enna. Wenn du bis dahin keine andere Bleibe gefunden hast, bringe ich deinen widerlichen Bastard, den wir ein Jahr lang durchgefüttert haben, in ein Heim. Ohne Wenn und Aber.«
Enna hatte diese Ansage den Boden unter den Füßen weggezogen. »Gut, dann werde ich gleich Morgen mit den Kindern …«
»Du bleibst!« Mit spitzem Finger hatte die Schwiegermutter auf sie gezeigt und ihr die letzte Hoffnung, dieser Hölle womöglich doch noch zu entkommen, genommen. »Du bleibst und wirst unserem Enkel und Erben eine gute Mutter sein. Deine Tochter aber wirst du selbstverständlich nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

  • 313 Seiten
  • Deutsch

Moin.

Vielen Dank, dass Sie sich für meine Bücher interessieren.

Ich wünsche gute Unterhaltung!

„Der 2. Teil ist genauso genial geschrieben wie der 1. Warte nun gespannt auf Teil 3. Vielen Dank für die Zeitreise in die Vergangenheit!“

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