Woher hatte der Kerl ihre Geheimnummern? Ganz bewusst hatte sie diese nur ihren engsten Freunden und ihrem Verlag gegeben. Denn in den letzten Monaten hatten sich die Anrufe penetranter Fans gehäuft, die ihr wahlweise vorschlugen
, gemeinsam einen Kaffee trinken zu gehen, sich
mein brechendstarkes Manuskript einmal durchzulesen oder sie beim Schreiben ihres zukünftigen
Megasellers zu unterstützen. Grundsätzlich war Helen zielstrebigen Nachwuchsautoren sehr gerne behilflich, aber inzwischen hatten die Anfragen derart zugenommen, dass sie für ihre eigene Arbeit keine Zeit mehr gefunden hätte, würde sie sie alle bedienen. Somit hatte sie beschlossen, zukünftig persönlich nur noch sehr eingeschränkt erreichbar zu sein. Wie also war es möglich, dass ein Wildfremder an ihre Nummern gekommen war?
Schon seit Wochen fühlte sich Helen von einem heimlichen Verehrer verfolgt. Beinahe täglich fand sie kleine Zettel mit Liebesbotschaften unter den Scheibenwischern ihres Sportwagens und in ihrem Briefkasten, zahlreiche E-mails verstopften ihren Posteingang. Sie alle waren stets unterschrieben mit
Dein Liebster. Zweimal hatte er ihr auch eine CD zukommen lassen, auf der er schnulzige Gedichte und Beteuerungen seiner bedingungslosen Liebe verewigt hatte, gepaart mit dem kryptischen Versprechen, mit ihr schon sehr bald
das Reich der überirdischen Freuden betreten zu dürfen. Am Schluss der Aufnahmen aber erschien auch jeweils die unzweideutige Drohung, dass sie
unvorstellbare Qualen würde erleiden müssen, wenn sie ihm weiterhin vorzugaukeln versuche, dass sie seine Liebe nicht erwidere, obwohl er genau wisse, dass es anders sei.
Voller Entsetzen war sie mit diesen CDs zur Polizei gegangen und hatte um Hilfe gebeten. Dort aber hatte man nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, solange nichts passiert sei, habe man keine Handhabe. Ein feister Polizist in Uniform war sich nicht zu blöd gewesen, ihr zu raten, sie solle die Sache doch einfach als Kompliment sehen. So manche Frau in ihrem Alter würde sich schließlich alle zehn Finger danach lecken, von der Männerwelt überhaupt noch beachtet zu werden. „Ich bin gerade einmal 36!“, hatte Helen empört erwidert und dafür ein anzügliches Grinsen mit der knappen Bemerkung Eben! geerntet.
Doch damit nicht genug, wurden ihr jetzt auch noch seit Tagen an jedem Vormittag rote Rosen durch einen Kurierdienst zugestellt; und es war ihr bisher trotz aller Anstrengungen unmöglich gewesen, herauszubekommen, wer der Auftraggeber war.
Dass ihr Verehrer sie nun aber auch noch anrief, war neu. Vermutlich hatte es ihn einiges an Zeit und Mühe gekostet, an ihre Telefonnummern heranzukommen. Doch ganz offensichtlich war es ihm gelungen.